Sehr geehrte gnädige Frau!
Ich habe mittlerweile Kenntnis darüber erlangt, dass Sie sich im ersten Stock des Jüdischen Museums Wien befinden und mir ein wenig meinen Rang als einziges Fahrrad im Jüdischen Museum Wien streitig machen wollen? Ich bin darüber nicht wirklich sehr empört, aber doch ein wenig nachdenklich geworden. Wie kann es sein, dass Sie mit Ihren drei Rädern in einer Ausstellung über die „Wiener in China“ Platz gefunden haben? Sie werden wohl nicht von China hierhergefahren sein, oder?
 
Liebe Victoria Blitz,
ja, das hätten Sie nicht gedacht! Ich bin selbst ebenfalls ein wenig verwundert, weshalb ich mich sehr über Ihre Nachricht freue. Wenn schon keine Besucherinnen und Besucher in der Ausstellung sein können, können wir beide wenigstens etwas Konversation führen. Das hilft gegen Langeweile und bildet ungemein.
 
Sehr geehrte ...,
wie soll ich Sie denn überhaupt anreden? Haben Sie einen Namen? Ich wurde von Adam Opel Victoria Blitz genannt, weil ich als Halbrennmaschine unglaublich schnell bin, schnell wie der Blitz. Die römische Göttin Victoria ist da eine nette Begleitung. Sie ist berühmt oder war es zumindest, als man noch an sie glaubte, Adam Opel ist es und mein Besitzer ebenfalls. Theodor Herzl.
 
Einen Namen? Ich glaube nicht, dass ich einen Namen habe. Und von Theodor Herzl habe ich nie gehört. Wer soll das sein?
 
Was, Sie kennen Theodor Herzl nicht? Den Erfinder des politischen Zionismus? Herzl, der 1860 in Budapest geboren wurde und 1904 in Edlach bei Reichenau gestorben ist, dessen Gebeine 1949 in den ein Jahr davor gegründeten jüdischen Staat überführt wurden und …
 
Da waren Sie dabei, oder wie?
 
Aber nein, wo denken Sie hin. 1949, wo war ich da? Wohl in Altaussee. Wo genau, habe ich aber mittlerweile vergessen. Dieser Theodor Herzl studierte in Wien und wurde Jurist. Nach Abschluss seines Studiums war er einige Zeit in Salzburg, leider wollte man ihn da aber nicht haben.
 
War er denn ein so schlechter Richter?
 
Er konnte gar nicht Richter werden, weil man ihn als Juden gar nicht für dieses Amt geeignet hielt. Darüber war er ziemlich traurig und schrieb in sein Tagebuch, dass er gern noch länger in dieser schönen Stadt geblieben wäre …
 
Salzburg, sagten Sie? Ich bin ebenfalls aus Salzburg.
 
In Salzburg haben die Fahrräder drei Räder?
 
Ich glaube, ich bin nicht in Salzburg gebaut worden. Wie auch immer, wie kamen Sie ins Jüdische Museum Wien? Aus Altaussee. Sind Sie nach Wien geradelt?
 
Wo denken Sie hin! Ich wurde von Theodor Herzl während seiner Sommerfrische verwendet, die er in Altaussee zu verbringen pflegte. Zu seiner Zeit war es sehr schick Sommerfrische zu machen und Radfahren war überhaupt das Allergrößte. Die Leute fanden das hochmodern und irgendwie besonders. Schick sind Sie aber auch – und mir scheint, man sitzt recht bequem?
 
Ich bin ja auch eine Rikscha! Da sitzt man und lässt sich durch die Gegend chauffieren. Vorne auf dem Rad, das so aussieht wie Ihr Vorderteil, sitzt der Rikscha-Fahrer. Und fährt die Leute herum. Keine chinesische Erfindung, sondern eine japanische. Egal. Ich gehöre bereits der zweiten Generation dieses Verkehrsmittels an. Ursprünglich wurden die Wagen, die zwei Räder haben und in denen die Fahrgäste sitzen, von einem Menschen gezogen. Sehr anstrengend. Ich bin also schon ein fortschrittlicheres Modell.
 
Haben Sie eigentlich eine Bremse?
 
Was heißt eine? Zwei natürlich. Was für eine Frage!
 
Verzeihen Sie, ich habe keine. Keine einzige Bremse. Gefällt mir aber ganz gut, denn dieses Fahrrad mit dem Namen Victoria Blitz ist auch eine Metapher für das Tempo der Zeit. Und der Idee, dass es irgendwann einmal möglich sein musste, dass Jüdinnen und Juden in Frieden leben können. In einem eigenen Staat, wo auch immer der sein soll. 1948 war es dann soweit …
 
Hätte es diesen Staat schon früher gegeben, hätten nicht Tausende Wiener Jüdinnen und Juden zwischen 1938 und 1941 nach Shanghai flüchten müssen. Flüchten können. Dort konnte man nämlich hin, wenn man kein Visum hatte und auch kein Affidavit.
 
Erstaunlich! Und die Wiener in China, wie ist es ihnen ergangen?
 
Gut und schlecht, besser und gar nicht gut, mittelmäßig, von allem etwas.
 
Sie sind offensichtlich Teil der neuen Ausstellung? Wollen Sie mir nicht bei Gelegenheit erzählen, wie es den Wienern in China ergangen ist? Oder Sie erzählen von sich – als Chinesin. Oder sind Sie am Ende eine Japanerin? Aber Sie erwähnten vorhin auch Salzburg?
 
Ja, das kann ich gerne tun. Über meine Salzburg-Geschichte muss ich allerdings mein Gedächtnis noch genauer befragen. Ich hoffe, wir korrespondieren bald wieder miteinander?
 
Womöglich finden wir auch Ihren Namen heraus?