06. März 2023
Feste Feiern

Große und kleine Geschichten – Purim sameach!

von Hannah Landsmann
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Im Inventar des Jüdischen Museum Wien finden sich unter dem Suchbegriff „Esther-Rolle“ 66 Treffer. Davon sind 9 Fotos, die 57 weiteren Einträge verzeichnen Esther-Rollen, ein Fragment einer Esther-Rolle, eine Hülle ohne Text und eine Abbildung mit einer Esther-Rolle, aus der gerade gelesen wird.  Esther ist die Heldin der Purim Geschichte und diese Geschichte befindet sich einer sogenannten Esther-Rolle.

Das Buch Esther ist Teil des Tanach, der hebräischen Bibel. Sie besteht aus der Tora, den fünf Büchern Mose, den Prophetentexten, Neviim, und den sogenannten Schriften, Ketuvim. Ergänzt man zu den Konsonanten T, N und K den Vokal a, kommen wir zum Begriff Tanach. Die an Purim erzählte Geschichte ist hochdramatisch: Haman, ein hoher Beamter im persischen Großreich, plant alle Jüdinnen und Juden zu töten. Er bestimmt den Tag der Auslöschung der jüdischen Gemeinde mit einem Los, das auf Hebräisch Pur heißt. Purim ist die Mehrzahl von Pur und der Name des Festes, das im Jahr 2023 am 6. März beginnt. Gefeiert wird am 7. März, am 14. Tag des Monats Adar, und zwar laut und ausgelassen. Die schreckliche Geschichte geht gut aus, denn die nicht nur sehr schöne, sondern auch sehr mutige Königin Esther bringt den persischen König Achaschwerosch, es handelt sich um Xerxes I., dazu, einmal nicht auf seine Berater zu hören, sondern eine eigene Entscheidung zu treffen. Ende gut, alles gut – Haman, seine Familie, seine Entourage und weitere Übeltäter werden getötet, die Jüdinnen und Juden in Persien sind gerettet. Diese Geschichte spielt im 5. Jahrhundert vor der Zeitrechnung und ist bis heute relevant. Wichtiges Detail: Dass Esther selbst Jüdin ist, wusste ihr Mann Achaschwerosch anfangs gar nicht.

Die größte der im Museum verwahrten Esther-Rollen wurde im Jahr 1844 hergestellt und im Türkischen Tempel, der Synagoge der sephardischen Gemeinde, verwendet. Die in Wien sogenannten türkischen Jüdinnen und Juden waren Nachfahren von den 1492 aus Spanien Vertriebenen, die mit den osmanischen Eroberungszügen durch Europa, auf den Balkan und bis nach Wien gekommen waren. Bereits aus dem Jahr 1778 datiert ein Dokument, das die rechtliche Grundlage dieser jüdischen Gemeinde bildet. Die „Türken in Wien“ dürfen eine Gemeinde bilden, öffentlich Gottesdienste feiern und eine Synagoge errichten. Der Türkische Tempel, der sich in der heutigen Zirkusgasse 22 befand, wurde erst 1887 eingeweiht, die Rolle stammt also aus einer älteren Synagoge in der Großen Hafnergasse, die später Große Mohrengasse heißen sollte.

Man mag sich wundern, warum die Betenden in der sephardischen Synagoge Zylinder tragen? Das war 1888, als das Gemälde geschaffen wurde, gerade „chic“ so wie es den Auftraggebern der Esther-Rolle passend schien, sie mit Biedermeier Rosendekor verzieren zu lassen. Man ist dort zuhause, wo man sich zugehörig fühlt und das galt auch für die Mitglieder dieser türkischen Gemeinde. Dass auf diesem Bild Frauen und Männer nebeneinander stehen, hat den nichtjüdischen Maler Johann Nepumuk Gellert entweder nicht gekümmert oder er wusste es nicht besser. 


 Zum Purim-Fest gehören neben der Lesung aus der Esther-Rolle in der Synagoge, bei der viel Lärm gemacht werden muss, damit man den Namen des Bösen, also Haman, der 38 Mal vorkommt, nicht hören kann, auch Masken und Verkleidungen. Die Kindergartenkinder im jüdischen Kindergarten waren 1937 natürlich anders verkleidet als man sich heute verkleiden würde. Ob man Esther sein möchte, Feuerwehrmann oder Feuerwehrfrau, Superman oder sich einfach nur eine Clown-Nase oder einen witzigen Hut aufsetzt, bleibt den Feiernden überlassen. Der Brauch mit den Verkleidungen rührt daher, dass Gott in der Geschichte über die Errettung der persischen Jüdinnen und Juden nur indirekt vorkommt, denn der Name Gottes wird kein einziges Mal genannt. Man soll also hinter die Fassade schauen und sich nicht vom Äußeren täuschen lassen. Damit hat auch der Brauch zu tun, sich an Purim zu betrinken, denn der Wein soll die Menschen dazu bewegen, ihre verborgenen Seiten zu offenbaren. Freilich wird nicht nur getrunken, sondern auch gut gegessen und man soll Freunde und Familienmitglieder beschenken und dabei die Armen und Bedürftigen ebenfalls nicht vergessen.

Auch ganz kleine Objekte können eine große Geschichte erzählen. Diese Esther-Rolle stammt aus dem ersten jüdischen Museum, welches 1895 in Wien gegründet wurde. Das in das 18. Jahrhundert datierte Pergament ist 4 cm hoch und die Rolle hat eine Länge von über drei Metern, der Rollenstab ist 12 cm lang. Auf den drei Metern ist Platz für die ganze Purim-Geschichte, die am Anfang und am Ende noch illustriert ist. Nach der gewaltsamen Schließung des weltweit ersten jüdischen Museums im Jahr 1938 durch die Gestapo gelangte ein Teil der Sammlung in andere Wiener Museen, u.a. das Naturhistorische Museum respektive dessen anthropologische Sammlung, was an dem kleinen Inventarschild zu erkennen ist, welches noch aus der K. und K. Zeit stammt. In den 1950er-Jahren wurden die aus dem alten jüdischen Museum geraubten Objekte an die Israelitische Kultusgemeinde zurückgegeben, welche diesen Bestand gemeinsam mit einer großen Anzahl an Objekten, die aus den zerstörten Wiener Synagogen, aus jüdischen Gotteshäusern in den Bundesländern, aber auch aus Vereinen, Häusern und Privatwohnungen stammten, dem Jüdischen Museum der Stadt Wien im Jahr 1992 als Dauerleihgabe überantwortet hat. Alle diese Objekte erzählen Wiener jüdische Geschichte(n), von einer blühenden Gemeinde und auch von ihrer Zerstörung.

Haman wirft das Los auf den 13. Adar, an dem die Auslöschung der persischen jüdischen Gemeinde hätte stattfinden sollen. Die Feier zur Erinnerung an die Rettung der persischen Jüdinnen und Juden wird am 14. des Monats gefeiert. Esther fastete, bevor sie dem persischen König von Hamans schrecklichem Plan erzählte und sich selbst als Jüdin zu erkennen gab. An Purim soll so viel Alkohol getrunken werden, dass man nicht mehr zwischen „Gelobt sei Mordechai“ (Mordechai ist Esthers Onkel) und „Verdammt sei Haman“ unterscheiden kann. Nach einem Fasttag braucht es vielleicht gar nicht viel, um die Übersicht zu verlieren?

Verwendete Literatur:
Die Türken in Wien. Geschichte einer jüdischen Gemeinde.  Ausstellungskatalog, hrsg. v. Felicitas Heimann-Jelinek, Gabriele Kohlbauer-Fritz, Gerhard Milchram, 2010