07. April 2023
Unter der Lupe

Der Hase mit den Bernsteinaugen

von Tom Juncker
© JMW

Einmal um die ganze Welt


Ende des 19. Jahrhunderts war Europa von einer Welle der Begeisterung für japanische Kunst erfasst. Auch der Pariser Kunstsammler Charles Ephrussi (1849–1905) begann zu dieser Zeit japanische Kunst zu sammeln, darunter eine beachtliche Sammlung an Netsuke – kleine, kunstvoll geschnitzte Figuren aus Japan. Diese dienten seit dem 17. Jahrhundert als Gegengewicht zur Befestigung eines Sagemono, eines hängenden Behältnisses, am Gürtel eines taschenlosen Kimonos. In dieser Funktion waren sie bis in die 1880er-Jahre in Gebrauch, bis schließlich der Kimono als Alltagskleidungsstück aus der Mode kam. Netsuke werden bis heute als Objekte von großem künstlerischen Wert und Ausdruck außergewöhnlicher Handwerkskunst geschätzt. Dargestellt wurden bevorzugt mythologische Figuren, Tiere, Früchte oder auch Szenen aus dem japanischen Alltag.

Lladislaus Eugen Petrovits, Franzensring Wien 1880 Farbdruck:
© JMW
Ladislaus Eugen Petrovits: Franzensring. Farbdruck, Wien 1880
 
Die ursprünglich aus Odessa stammende Bankiersfamilie Ephrussi gründete sowohl in Paris als auch in Wien Filialen ihres Bankhauses. Durch Einheirat in die Wiener Gesellschaft baute die Familie ihre soziale Stellung aus, durch den Bau des Palais Ephrussi auf der Ringstraße, gegenüber der Universität Wien gelegen, schrieb sie sich in die Stadtgeschichte ein. Die Netsuke-Sammlung schenkte Charles Ephrussi seinem Wiener Cousin Viktor (1860–1945) aus Anlass seiner Hochzeit 1899. Aufbewahrt wurden sie anschließend in einer Vitrine im Ankleidezimmer von Viktors Frau Emmy (1869–1938) im Palais Ephrussi. Nach dem „Anschluss“ Österreichs an das nationalsozialistische Deutsche Reich im März 1938 beschlagnahmte die Geheime Staatspolizei (Gestapo) sie mit dem restlichen Besitz der Familie. Die Mitglieder der Familie Ephrussi flohen ins Exil nach Großbritannien, in die USA und nach Mexiko.

Edmund de Waal, Urenkel von Viktor Ephrussi, erzählt in seinem 2010 erschienenen Roman Der Hase mit den Bernsteinaugen die Geschichte der Rettung der Netsuke durch das Dienstmädchen Anna. Im Roman versteckt Anna die Netsuke in einem Akt des Widerstandes vor der Gestapo und gibt sie nach dem Ende der NS-Herrschaft an die Familie zurück. Historisch lässt sich diese Familienerzählung nicht belegen. 

Nach der „Arisierung“ des Familienbesitzes durch den NS-Staat 1938 verliert sich die Spur der Netsuke. Auf den Beschlagnahmungslisten der Gestapo werden sie nicht explizit erwähnt. Hinweise auf Vitrinen mit Nippes oder Ziersachen deuten jedoch auf die Netsuke hin. Überdauerten sie die NS-Zeit in einem Depot oder Museum wie die restlichen Kunstwerke der Familie? Oder wurden sie tatsächlich vor der nationalsozialistischen Raubpolitik gerettet?

Cover Schmuckausgabe Hase mit den Bernsteinaugen:
© dtv
Cover einer deutschen Ausgabe

Erst 1950 findet sich ihre Spur wieder: In den Akten des Bundesdenkmalamtes ist in einer Ausfuhrbewilligung an Iggie Ephrussi (1906–1994) nach Tokio vermerkt: „60 Stück Netsuke, Holz, 135 Stück Netsuke, Elfenbein“. An Viktors Sohn Iggie Ephrussi von der Republik Österreich restituiert, fanden die Netsuke somit ihren Weg zurück nach Japan. Nach seinem Tod 1994 erbte sein in London lebender Großneffe Edmund de Waal die Familiensammlung. 

Edmund de Waal bei der Übergabe der netsuke im Jüdischen Museum Wien:
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Edmund de Waal bei der Übergabe der Netsuke im Jüdischen Museum Wien, 2018
 
Der britische Keramikkünstler begann daraufhin, seine Familiengeschichte – mit der Netsuke-Sammlung als Ausgangspunkt – zu rekonstruieren und hielt sie in seinem bereits erwähnten Roman fest. 2017 schenkte de Waal dem Jüdischen Museum Wien das Familienarchiv der Ephrussis. Im Rahmen der Ausstellung Die Ephrussis. Eine Zeitreise kamen schließlich auch die Netsuke – darunter der berühmte Hase mit den Bernsteinaugen – als Dauerleihgabe zurück nach Wien.

Nach einem Ausflug nach New York, wo die Ausstellung und die Netsuke im Jewish Museum 2021/22 gezeigt wurden, sind die vielgereisten Netsuke nun zurück in Wien und seit April 2023 in der Dauerausstellung des Jüdischen Museums in der Dorotheergasse zu sehen.
Literatur:

Gabriele Kohlbauer-Fritz/Tom Juncker (Hg.), Die Ephrussis. Eine Zeitreise, Jüdisches Museum Wien 2019.

Edmund de Waal, Der Hase mit den Bernsteinaugen, aus dem Englischen von Brigitte Hilzensauer, Wien 2011.