01. Mai 2023
Schaufenster

Schaufenster Nr. 1 – Die erste und die letzte Generation

von Caitlin Gura
© JMW
Die Sarajevo-Haggada gehört zu den weltweit ältesten illustrierten rituellen Texten sephardischer Herkunft. Schätzungen zufolge wurde das Manuskript um 1350 auf der iberischen Halbinsel angefertigt. Nach der Vertreibung der sephardischen Juden aus dem mittelalterlichen Spanien im Jahr 1492 ging das Manuskript auf eine geheimnisvolle Reise durch Europa, tauchte im 17. Jahrhundert in Venedig auf und gelangte schließlich 1894 nach Sarajevo, wo es vom Bosnisch-hercegovinischen Landesmuseum (dem heutigen Nationalmuseum von Bosnien und Herzegowina) erworben wurde (Brooks, 2007). Während dieser kurzen Zeit fertigte Max Fleischer, ein prominenter jüdischer Architekt aus Wien, Kopien der Sarajevo-Haggada an, die 1900 dem fünf Jahr zuvor gegründeten Jüdischen Museum Wien geschenkt wurden.

Die Haggada beginnt mit einer Darstellung der Schöpfung. Vier Farbtafeln stellen die Trennung zwischen Tag und Nacht, die Erschaffung des Himmels, des Meeres und der Erde dar. In der Tora heißt es zur Vollendung der Welt: „Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Und siehe da, es war sehr gut.“ (Genesis 1:31) Es war das Paradies.

Der heutige Zustand der Erde ist allerdings alles andere als sehr gut: Umweltverschmutzung, globale Erwärmung und andere vom Menschen verursachte Katastrophen bedrohen uns und sämtliches Leben auf dem Planeten. Der katastrophale Klimawandel verschärft die Schere zwischen Arm und Reich und führt zu einer Zunahme sozioökonomischer Probleme wie Vertreibung und neue Migrationsströme, die wiederum Sozialsysteme unter Druck setzen (Noonan & Rusu, 2022). Steigende Temperaturen und die zunehmende Umweltverschmutzung wirken sich unmittelbar auf unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden aus, sowohl physisch als auch psychisch (Europäische Kommission, 2023). Letztendlich wirkt sich die Klimakrise auf alle Aspekte unseres Lebens aus.

Um die sich zuspitzende Klimakatastrophe ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu bringen, haben Aktivistengruppen zu drastischen Taktiken gegriffen und Museumsobjekte ins Visier genommen (CNBC, 2022). Obwohl solche Maßnahmen verurteilt wurden, haben sie ihr Ziel erreicht: die Aufmerksamkeit der Medien zu gewinnen. Die Aktivisten kritisieren die Regierungen dafür, einerseits immense Mittel für die Erhaltung unschätzbarer Kunstwerke von Klimt, Van Gogh, Monet und anderen bereitzustellen, aber die dringende Notwendigkeit zu vernachlässigen, eine lebenswerte und nachhaltige Umwelt zu schaffen, ohne die es keine Menschen mehr geben wird, die Kultur erschaffen und genießen können.
 
Bewegungen wie Fridays for Future haben das Ziel, die Regierungen – insbesondere die der globalen Großmächte – in die Pflicht zu nehmen, ihre Klimapolitik umzusetzen und die im Pariser Klimaabkommen von 2016 formulierten Ziele einzuhalten. Um eine grundlegende Wende in dieser globalen Krise herbeizuführen und unsere Welt so zu erhalten, wie sie in der Sarajevo-Haggada dargestellt wird, müssen die Treibhausgasemissionen sowohl in Österreich als auch in der EU und weltweit stark reduziert werden. Hierfür bedarf es eines entschiedenen Engagements für eine ökologische Wende in der Weltwirtschaft, da dies ebenfalls von zentraler Bedeutung ist.

Statt eine nihilistische Sichtweise zu entwickeln, sollte man auf individueller Ebene produktive Maßnahmen ergreifen, auch wenn die Auswirkungen im globalen Maßstab relativ gering sind. Dabei ist es wichtig zu bedenken, dass jede positive Veränderung im Kleinen einen wertvollen Beitrag zur Lösung der globalen Probleme leistet. Das Jüdische Museum Wien tut das ihm Mögliche, um umweltfreundlich und nachhaltig zu arbeiten. Im Juli 2022 wurde dem JMW offiziell das Österreichische Umweltzeichen als „Grünes Museum“ verliehen. Hierfür hat sich das Museum einem umfassenden Bewertungsprozess unterzogen, in dem geprüft wurde, ob nachhaltige Praktiken sowohl bei den Ausstellungsprogrammen als auch in den täglichen Arbeitsabläufen angewandt werden.

Bei der Einrichtung von Ausstellungen legen wir großen Wert darauf, möglichst viele Materialien wiederzuverwenden, wie beispielsweise Vitrinen und Plexiglashauben aus früheren Ausstellungen.

Seit Mai 2023 ist das Jüdische Museum Wien auch Mitglied bei Museums for Future, einer gemeinnützigen Organisation, die sich für die Umsetzung und Einhaltung klimapolitischer Maßnahmen im professionellen Museumsbereich einsetzt. Unser Engagement für Nachhaltigkeit endet jedoch nicht hier. Alle Mitglieder unserer Gesellschaft – Bürger, Museen, Unternehmen, Politik – müssen zusammenarbeiten, um sicherzustellen, dass unsere Welt von der ersten bis zur letzten Generation bewohnbar bleibt.


Literatur


CNBC, „Climate activists throw black, oily liquid at Klimt painting in Vienna“, 11.15.2022, https://www.cnbc.com/2022/11/15/climate-activists-throw-black-oily-liquid-at-klimt-painting-in-vienna.html (28.04.2023).

Eamonn Noonan/Ana Rusu, „The Future of Climate Migration”, European Parliamentary Research Service, PE 729.334, März 2022, https://www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/ATAG/2022/729334/EPRS_ATA(2022)729334_EN.pdf (28.04.2023).

Europäische Kommission, „Folgen des Klimawandels – Gefahren für die Gesellschaft – Gesundheit“, https://climate.ec.europa.eu/climate-change/consequences-climate-change_de (04.05.2023).

Geraldine Brooks, The Book of Exodus. A Double Rescue in Wartime Sarajevo, in: The New Yorker, 03.12.2007, http://geraldinebrooks.com/wp-content/uploads/2015/06/Korkut_near-final-pages.pdf, (15.03.2023).