30. November 2016
Unter der Lupe

Der wesentliche Blick auf das Hier und Jetzt

von Danielle Spera
© Marlene Rahmann
Viel wird derzeit über die Sinnhaftigkeit von Jahresrückblicken diskutiert. Ich finde es nach wie vor angemessen, Bilanz zu ziehen und die Leistungen des zu Ende gegangenen Jahres zu betrachten – vor allem als öffentlich finanziertes Unternehmen. Dabei erscheint es mir, als ob ich gerade erst vor ein paar Monaten über das vergangene Jahr reflektierte, da dieses Jahr vermeintlich so schnell verging. 
 
Für das Jüdische Museum Wien war 2016 ein sehr spannendes, kreatives und ereignisreiches Jahr im positiven Sinn. Im Oktober wurde uns die große Ehre zuteil, den Tourismuspreis der Wiener Wirtschaft verliehen zu bekommen. Dass wir nach dem Schloss Schönbrunn, dem Belvedere oder dem Stephansdom diese Auszeichnung erhielten, hat uns mit besonderer Freude erfüllt. In der Begründung der Jury heißt es: „Das Jüdische Museum Wien ist ein Fixpunkt im Besuchsprogramm vieler Gäste aus aller Welt. Es vereint Vergangenheit und Gegenwart und lädt Menschen aller Kulturen und Generationen zum Dialog ein. Als wichtiger Ort der Begegnung leistet es einen wertvollen Beitrag zur Bedeutung Wiens im Herzen Europas“. Der Tourismuspreis ist für uns ein zusätzlicher Ansporn, uns diesem Segment unserer Gäste weiterhin mit größter Sorgfalt zu widmen.
 

Gestartet sind wir mit der großen Ausstellung Die Universität. Eine Kampfzone, die das schwierige Beziehungsgeflecht zwischen den Wiener Jüdinnen und Juden und der Universität Wien verhandelte. Worüber wir uns freuten, war die Tatsache, dass besonders viele Studentinnen und Studenten diese Ausstellung besuchten. Hier gilt unser Dank der Universität Wien, die uns unterstützte, damit wir den Studierenden freien Eintritt ermöglichen konnten. Im Museum Judenplatz erinnerten wir mit der Ausstellung Wiesenthal in Wien an einen großen Österreicher. Das 250-Jahr-Jubiläum des Wiener Praters nahmen wir zum Anlass, ein nicht bekanntes Kapitel des Wiener Vergnügungsviertels zu beleuchten: die zahlreichen jüdischen und jiddischen Theater, Kabaretts und Varietés, in denen einige, später prominente Schauspieler debütierten, z. B. niemand geringerer als Hans Moser.
 
Wie aus der Operette eine neue Art von Musik - über das Musical und den Jazz bis hin zu Rock, Pop und Punk - entstand und wie sehr diese Unterhaltungsmusik bis heute von jüdischen Komponisten, Interpretinnen und Interpreten sowie Produzenten geprägt wird, thematisierte die Ausstellung Stars of David. Einer der wichtigen Protagonisten dieser Szene, Bob Dylan, erhielt im Dezember den Literaturnobelpreis.
 
Leonard Cohen in der Ausstellung Stars of David; (c) JMW / P. Fuchs
 
Ein wesentlicher Beitrag zur Aufarbeitung der österreichisch-jüdischen Geschichte, ist die virtuelle Rekonstruktion der 1938 zerstörten Synagogen, die seit Jahren von zwei TU-Professoren und deren Studentinnen und Studenten akribisch und wegweisend vorangetrieben wird. Daher war es hoch an der Zeit, diesem Projekt in einer umfassenden Ausstellung eine Plattform zu bieten. Neben den eindrucksvollen virtuellen 3D-Rekonstruktionen werden die zur Ausstellung erschienene Publikation sowie ein Memo-Spiel als bleibende Produkte an die zerstörten Synagogen erinnern. In diesem Zusammenhang haben wir für das in Gründung befindliche Haus der Geschichte Niederösterreich die Synagogen des Landes virtuell rekonstruiert und im Deep Space des Ars Electronica Center in Linz sind aktuell die Rekonstruktion der Linzer Synagoge sowie Objekte aus unserem Haus in Gigapixel-Format (großartig in Szene gesetzt von Lois Lammerhuber) zu betrachten.
 
Blick in die Ausstellung Wiener Synagogen. Ein Memory; (c) JMW / Sonja Bachmayer
 
Mit der Ausstellung Das Wohnzimmer der Familie Glück holten wir die Möbel einer 1938 vertriebenen jüdischen Familie aus New York wieder in die frühere Heimatstadt zurück. Die Möbel geben uns die Gelegenheit, das Schicksal der Familie Glück zu erzählen, das geprägt ist von Vertreibung, Ermordung, aber auch von helfenden Rettern. Es war ein besonders berührender Moment, als Henry Glück, der als kleiner Bub aus Wien flüchten musste, die Geschichte seiner Familie mit uns teilte.
 
Mindestens genauso emotional gestaltete sich die Übergabe der Archivalien von Mignon Langnas, einer Wiener Jüdin, die als Krankenschwester während der Nazizeit jüdischen Kindern das Leben rettete. Mignons Kinder, die seit 1938 in den USA leben, entschlossen sich, alle Aufzeichnungen, Fotos und Tagebücher ihrer Mutter dem Jüdischen Museum Wien zu schenken. Wir sind dankbar dafür und können auf diesem Weg eine wesentliche, wenn auch schmerzhafte Zeitspanne der Wiener Geschichte unseren Gästen näherbringen.
 
Nachlass Mignon Langnas; (c) JMW / P. Fuchs
 
Das Jüdische Museum Wien ist derzeit auch an einem anderen Ort in Wien präsent. Auf Ersuchen der Botschafterin des Staates Israel, Talya Lador Fresher, durften wir den Salon ihrer Residenz ausstatten. So sind Objekte des Jüdischen Museums in der von Adolf Loos errichteten Villa ausgestellt, deren Geschichte auch von Enteignung sowie dem mehr als unsauberen Umgang Österreichs mit der Rückgabe erzählt.
 
Auch im Ausland war das Jüdische Museum Wien 2016 gut vertreten. So durften wir – gemeinsam mit Arik Brauer – in Bukarest seine Haggada-Ausstellung, die bei uns in Wien sehr erfolgreich war, eröffnen. Die Ausstellung Lessing zeigt Lessing war nach New York und Washington/DC im Jüdischen Museum in Krakau zu sehen, danach in Danzig und ist derzeit in Opole zu besuchen. Auch unser US-Freundesverein war heuer besonders aktiv. In Washington/DC, Los Angeles und in New York fanden sehr gelungene Veranstaltungen statt. Hier ist besonders dem ehemaligen Präsidenten Martin Mendelsohn, Botschafter Waldner, Generalkonsul Heindl und seiner Frau Neline, Ruth Block sowie Markus und Leanne Rogan zu danken.
 
Lessing zeigt Lessing im Jüdischen Museum Krakau; (c) JMW
 
2016 war leider auch ein Jahr des Verlusts. Zwei Menschen, die für das Jüdische Museum Wien wichtig waren, haben uns verlassen: Jenö Eisenberger und Paul Peter Porges (PPP). Wir trauern auch um Elie Wiesel und Leonard Cohen.
 
Zum Jahresende durften wir uns über die Umsetzung der ersten Wiener Weihnukka-Beleuchtung in der Dorotheergasse freuen. Persönlich war ich dankbar, dass ich zu vielen verschiedenen Anlässen als Rednerin eingeladen wurde, so z. B. ins Tel Aviv Museum zur Eröffnung der Ausstellung Counterlight von Maya Zack, an die UCLA, die Hebrew University, zum Philosophicum Lech, zu einem Gespräch mit Hermann Nitsch über Gott und die Welt, ins Arbeitsmuseum Steyr mit Robert Schindel oder aber ins Wien Museum, wo ich anlässlich der Ausstellung Ballgasse 6 über die Galerie Pakesch und die Kunstszene der 1980er-Jahre erzählen durfte. Mit Marko Feingold durfte ich im Parlament über sein unglaubliches Leben sprechen und für ORF III ein spannendes Interview mit dem einzigartigen Filmproduzenten Eric Pleskow führen.
 
Danielle Spera spricht mit Marko Feingold im österreichischen Parlament anläßlich des Tags gegen Gewalt und Rassismus am 9. Mai 2016; (c) JMW
 
Mit großer Dankbarkeit und Freude durfte ich die Wiederwahl als Präsidentin von ICOM Österreich erleben und werde mich dieser wichtigen Aufgabe für die österreichischen Museen auch weiterhin mit all meiner Kraft widmen.
 
In diesem Sinn freuen mein Team und ich uns bereits auf alle Projekte, die 2017 vor uns liegen. Sie bieten viele neue Einblicke in die jüdische Geschichte, weit über die Wiener Perspektive hinaus, immer mit dem im Judentum so wesentlichen Blick auf das Hier und Jetzt. Ich bin sicher, dass auch mein nächster Jahresrückblick eine abwechslungsreiche Rückschau für Sie darstellen wird.  
 
Titelbild (c) Marlene Rahmann