07. März 2025
Schaufenster

Schaufenster: Das Mädchen mit den Elefanten

von Andrea Winklbauer
© JMW / Stefan Fuhrer
Die Tierfotografin Ylla (1911–1955) war zu ihrer Zeit eine Berühmtheit. Man sagte ihr nach, die beste Spezialistin auf ihrem Gebiet zu sein. Was sie so besonders machte: Ylla, eigentlich Camilla Henriette Koffler, verstand es, sich auf Tiere als Modelle einzulassen und sie als Individuen mit ihren je eigenen, tierischen Charakterzügen zu porträtieren. Das Ende der 1930er-Jahre entstandene Foto, das ihre Mentorin und Freundin Ergy Landau von ihr machte, zeigt sie bei ihrer Arbeit in einem Pariser Zoo. Mit erstaunlicher Unerschrockenheit ist Ylla vor einem Elefanten in die Hocke gegangen, als könnte ihr dabei nichts passieren. Die Kamera hält sie so, dass sie den Kopf des Kolosses von unten aufnehmen kann. Als Fotografin, die ihren Traum lebt, und als Modell eines Fotos, das ihre nicht ungefährliche Arbeit dokumentiert, lächelt sie in den Sucher hinein. Sie weiß, was für ein Unikum sie ist: Eine Frau, die sich traut, wilden Tieren so nahe zu kommen, wie es die Mehrzahl ihrer männlichen Konkurrenz nie gewagt hätte.

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Ergy Landau
Die Tierfotografin Ylla bei der Arbeit, um 1939
Silbergelatinepapier
Jüdisches Museum Wien


Es war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch nicht einfach für Frauen, einen kreativen Beruf zu ergreifen. Von Männern beherrschte Hochschulen, Bünde und Vereinigungen versuchten die weibliche Konkurrenz so lange wie möglich auszuschließen. Die Fotografie war jedoch deutlich weniger hoch angesehen als Malerei, Bildhauerei oder Architektur. Auch waren die Ausbildungsmöglichkeiten niederschwelliger und die Seilschaften der Männer aufgrund der relativen Neuheit noch weniger etabliert. Beides erleichterte es Frauen, Zugang zu diesem Beruf zu finden. In Wien bot etwa die Graphische Lehr- und Versuchsanstalt Frauen „schon“ ab 1908 eine vollwertige Ausbildung zur Fotografin an, während die Akademie der bildenden Künste erst ab 1920 angehende Bildhauerinnen und Malerinnen zuließ.

Unter den zahlreichen jungen Frauen, die in Mitteleuropa in der Zwischenkriegszeit den Beruf der Fotografin ergreifen wollten, befanden sich besonders viele Jüdinnen, viele davon aus gutbürgerlichen Familien, manche auch aus dem Großbürgertum. Diese Besonderheit wird damit erklärt, dass akkulturierte jüdische Familien ihren Töchtern öfter eine Ausbildung und eine berufliche Karriere zuzugestehen bereit waren als Familien aus den christlich geprägten Mehrheitsgesellschaften, die noch lange Zeit an einem patriarchalischen Frauenbild festhielten. Als Ergebnis dieser Einstellung – und des Ehrgeizes der Töchter – finden sich besonders unter den innovativen und heute noch berühmten Fotografinnen der Zwischenkriegszeit vor allem Jüdinnen.


Eine davon war Ylla. Sie wurde als Tochter der Ungarn Margit Leipnik aus Sisak (Kroatien) und Max Heinrich Koffler, einem Geschäftsmann aus einer wohlhabenden, noblen Familie in Brăila (Rumänien), am 16. August 1911 in Wien geboren. Ylla stellte sich in ihrer Jugend als Ungarin vor, später soll sie jedoch ihre rumänische Herkunft betont haben. Der US-amerikanische Filmregisseur Howard Hawks hielt sie für eine Deutsche. Die ersten Lebensjahre verbrachte Camilla Koffler in Wien, aber auch auf den Reisen, die ihr Vater geschäftlich unternahm. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und der Trennung ihrer Eltern lebte sie in Budapest und danach in Belgrad, wo sie ab 1926 ein Studium der Bildhauerei an der Kunstakademie begann. In dieser Zeit änderte sie ihren Vornamen in Ylla. Ende 1931 übersiedelte sie nach Paris, um ihr Bildhauerstudium an der Académie Colarossi in Montparnasse fortzusetzen. Weil sie Geld brauchte, nahm sie einen Job als Assistentin im Fotostudio der ebenfalls ungarisch-jüdischen Fotografin Ergy Landau an.

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Ylla, Le canard blanc, 1937

Das Zusammentreffen mit Landau war ein großer Glücksfall für die Zwanzigjährige, denn sie entdeckte so nicht nur ihre eigene Begabung für die Fotografie, sondern wurde auch von ihrer Chefin und späteren Freundin gefördert. Diese Unterstützung war umso hilfreicher, als Landau in der Pariser Avantgarde-Szene gut vernetzt war. Erzsébet Landau (1896-1967) hatte 1918 eine Lehre bei der ungarischen Fotografin Olga Máté in Budapest abgeschlossen und anschließend bei den Porträtfotografen Franz Xaver Setzer in Wien und Rudolf Dührkoop in Berlin studiert. 1919 nach Budapest zurückgekehrt, eröffnete Landau ein Atelier und stellte erstmals eigene Arbeiten aus. 1923 ging sie nach Paris. Sie änderte ihren Vornamen in Ergy und eröffnete 1924 das „Studio Landau“ in der rue Lauriston 17.

Ylla begann 1932 zu fotografieren. Ihre Modelle waren aber von Anfang an nicht Menschen, sondern Tiere, die sie – nach Meinung ihrer Zeitgenoss:innen – auf eine zuvor noch nie gesehene Weise ablichtete, nämlich nicht wie Requisiten, sondern als lebendige Individuen. Ihre Wahl entsprach der tiefen Überzeugung einer Wesensverwandtschaft: „Wenn ich mich zum Beispiel unter Kühen oder Giraffen befinde, sind wir sofort entre nous‘“, steht auf einer Notiz aus den 1930er-Jahren. 1933 erschien der erste Artikel über ihre Fotos. Im selben Jahr stellte sie erstmals aus. Mit Geld, das Landau ihr borgte, konnte sie im selben Jahr ihr erstes Fotostudio eröffnen, das damals einzige Porträtstudio für Tierfotografie in Paris. Mit Energie und Erfindungsreichtum fand sie Wege, die angepeilte Kundschaft auf ihre Arbeit aufmerksam zu machen, etwa indem sie Tierärzte anschrieb und sie bat, ihre Dienste den Besitzer:innen der vierbeinigen Patienten zu empfehlen. 1935 veröffentlichte Ylla ihre ersten beiden Fotobücher, „Chiens“ (Hunde) und „Chats“ (Katzen), denen zahlreiche weitere Bücher folgten, und sie ließ Postkarten ihrer Fotos drucken. Auch in der illustrierten Presse waren ihre Tierbilder mittlerweile häufig zu sehen.

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Ylla, Petits et grands, 1937

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Foto von Ylla am Cover US Camera, Nr. 11, Oktober 1940


Doch auch Ylla wurde immer wieder zum Modell, oft für Ergy Landau, die sich auf künstlerische Aktfotografie spezialisiert hatte. Auf anderen Fotos ist Ylla privat abgebildet, etwa mit Freund:innen oder im Badeanzug am Strand. Auf diesen Fotos ist sie fast immer lachend zu sehen. Die zweite Hälfte der 1930er-Jahre müssen eine glückliche Zeit für Ylla gewesen sein. Sie hatte viele Freunde gefunden und war ein Shooting Star in der damaligen Welthauptstadt der Fotografie – und nicht nur dort: Auch im MoMA in New York war man auf sie aufmerksam geworden. Erfolg und Bekanntheitsgrad stiegen weiter an, bis 1939 der Zweite Weltkrieg begann und die Nachfrage nach Tierfotos einbrach. Plötzlich spielte auch ihr Status aus Ausländerin eine Rolle. Sie erwog alle möglichen Szenarien wie eine Scheinehe mit einem Franzosen oder die Auswanderung in die USA. Nur wenige Tage vor dem Einmarsch der Wehrmacht im Juni 1940 verließ sie Paris und gelangte auf abenteuerlichen Wegen nach Marseille, von wo sie mit einem vom MoMA unterstützten Visum und einer von Varian Fry1 bezahlten Passage nach New York ausreisen konnte. Ihre Freundin Ergy Landau, die als Jüdin ebenso wie Ylla in Gefahr war, blieb in Paris und überstand die Zeit der deutschen Besatzung.

In New York, das sie nach einjähriger Odyssee am 6. Juni 1941 völlig mittellos erreichte, konnte Ylla mithilfe von Freunden und aufgrund ihrer Bekanntheit in Fachkreisen ihre Arbeit sogleich fortsetzen. Bald war sie auch in den USA wieder erfolgreich, wenn auch nicht ausschließlich wegen ihrer Fotos: Ylla selbst, die junge, attraktive und furchtlose Tierfotografin, sorgte für Publicity. Wie der Ylla-Kenner und -Nachlassverwalter Pryor Dodge in seiner 2024 erschienen Monografie schildert, kam die Fotografin immer wieder in gefährliche Situationen, aus denen sie meist unbeschadet hervorging. Einmal jedoch verbiss sich ein Panda, den sie fotografieren wollte, in ihren Oberschenkel. Das wohlwollende Medienecho auf diesen Zwischenfall steigerte ihre Bekanntheit in den USA und kurbelte ihre Karriere zu einem Zeitpunkt an, als sie es gerade sehr gut brauchen konnte. Ab Ende 1941 war es ihr möglich, ein Penthouse mit Terrasse als Atelier und Wohnung zu mieten und zu reisen, zunächst innerhalb der USA. 1952 besuchte sie erstmals Afrika, 1954/55 Indien.

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Ylla, The Sleepy Little Lion, 1947

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Ylla, Hunde, 1956


Letzten Endes führte ihre Unerschrockenheit aber Yllas viel zu frühen Tod herbei. Inspiriert von dem Farbfilm „Der Strom“ (1951) des französischen Regisseurs Jean Renoir, der an den Ufern des Ganges gedreht worden war, folgte sie Ende 1954 einer Einladung des Maharadschas von Mysore nach Indien. Am 29. März 1955 bestand sie darauf, ein Ochsenkarrenrennen in Bharatpur von der Motorhaube eines fahrenden Jeeps aus zu fotografieren, ohne dabei auf ihre eigene Sicherheit zu achten. Als der Jeep mit hoher Geschwindigkeit über eine Bodenwelle fuhr, wurde sie heruntergeschleudert und erlitt eine schwere Kopfverletzung, der sie tags darauf erlag.

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Ylla, Animaux des Indes, 1958

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Ylla, Tiermütter und Tierkinder, 1959


Als waghalsige Fotografin wilder Tiere ging Ylla nicht zuletzt durch die Berichterstattung über ihren Tod und die zahlreichen Publikationen ihrer Fotos aus Indien in die Populärkultur ein. Mehrere ihrer Fotobücher wurden postum publiziert. 1957 erschienen gleich zwei Comics über ihr ereignisreiches Leben, einer in Frankreich und einer in Belgien.  Der Regisseur Howard Hawks ließ sich für seinen 1962 fertig gestellten Afrika-Film „Hatari!“ (Suaheli für „Gefahr“) von Ylla zu einer Filmfigur inspirieren. Ylla ging Risiken ein, weil sie auf diese Weise nicht nur ungewöhnlichere Fotos machen, sondern sich auch selbst die Aufmerksamkeit der Presse sichern konnte: Hier war eine Frau, die das tat, was ihre männlichen Kollegen nicht zu tun wagten – ein verhängnisvolles Alleinstellungsmerkmal. Zu diesem Zweck war wohl auch das Foto von Ergy Landau entstanden, das eine lachende Ylla im Pariser Zoo bei ihrer lebensgefährlichen Arbeit zeigt.

 

1 Der US-amerikanische Journalist und Bürgerrechtler Varian Mackey Fry (1907–1967) war bei einem Berlin-Aufenthalt 1935 Zeuge der Verfolgung von Juden durch das nationalsozialistische Regime geworden. 1940 wurde er vom amerikanischen Emergency Rescue Committee (ERC) nach Marseille geschickt, um einem Who-is-Who von europäischen Intellektuellen, Künstlern, Politikern und Gewerkschaftlern die Flucht aus dem unbesetzten Vichy-Frankreich nach Übersee zu ermöglichen. Gegen alle Widerstände retteten Fry und seine Helfer:innen weitaus mehr Personen, als auf der ursprünglich vom ERC erstellten Liste standen, unter ihnen auch Ylla.