19. April 2023
Unter der Lupe

Zum 50. Todestag von Hans Kelsen

von Adina Seeger
© Provided by and used with permission of Anne Feder Lee, Ph.D, granddaughter of Hans Kelsen; Hans Kelsen-Institut
Am 19. April 1973 starb Hans Kelsen in Orinda bei Berkeley in den USA. Der Rechtswissenschaftler mit Wiener Wurzeln gilt als einer der bedeutendsten Staatsrechtler und Rechtstheoretiker des 20. Jahrhunderts. Als Architekt der österreichischen Bundesverfassung ist Hans Kelsen bis heute eine zentrale Figur für die Republik Österreich. 

Hans Kelsen wurde 1881 in Prag in eine deutschsprachige jüdische Familie geboren. Die Familie zog bald nach Wien, wo der Vater etwa die Beleuchtung in Wiener Synagogen gestaltete. Kelsens Onkel wiederum war Metallwarenhändler in Wien und fertigte Kanaldeckel. Einer der letzten erhaltenen Deckel ist heute am Wiener Zentralfriedhof zu finden – ein weiterer befindet sich in der Sammlung des Jüdischen Museums Wien.

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© Hans Kelsen-Institut (Bundesstiftung)
Hans Kelsen als 23-jähriger Student in Tracht, Studioaufnahme, 1904

Der junge Kelsen las viel, beschäftigte sich früh mit Philosophie und schrieb Gedichte. Nach seiner Matura 1900 studierte er Jus, bald mit dem Wunsch, eine akademische Laufbahn einzuschlagen. Dabei war er nicht nur antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt, auch die finanzielle Lage seiner Familie nach dem Tod seines Vaters wurde zur Belastung. Dennoch habilitierte er sich 1911 zu den Hauptproblemen der Staatsrechtslehre, einer rechtstheoretischen Schrift, die den Auftakt für seine Reine Rechtslehre bilden sollte. Im Ersten Weltkrieg war Kelsen in der Militärjustiz und -verwaltung tätig, ab 1917 als Referent des Kriegsministers. Diese Stellung begünstigte, dass er – trotz jüdischer Abstammung – 1918 Professor an der Universität Wien wurde. 

Nach dem Zusammenbruch der Monarchie 1918 wurde Kelsen als unabhängiger Experte von Staatskanzler Karl Renner mit der Arbeit an einer Bundesstaatsverfassung für die junge Republik beauftragt. An der Entstehung der Verfassung waren rund ein Dutzend Männer beteiligt, aber es war maßgeblich Kelsen, der ihr die Form gab, weshalb er oft als ihr Architekt bezeichnet wird. Nach langen Verhandlungen, die durch den Bruch der Regierungskoalition erschwert wurden, konnte am 1. Oktober 1920 das Bundes-Verfassungsgesetz im Parlament beschlossen werden. Im Zuge der Entstehung der österreichischen Bundesverfassung entwickelte Kelsen das – später so bezeichnete – österreichische Modell der Verfassungsgerichtsbarkeit, das europaweit Nachahmung fand. 1919 wurde er als parteiunabhängiger Experte zum Richter am Verfassungsgerichtshof (VfGH) ernannt.

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© Provided by and used with permission of Anne Feder Lee, PhD, granddaughter of Hans Kelsen // Hans Kelsen-Institut (Bundesstiftung)
Hans Kelsen (2. v. r.) als Richter des österreichischen Verfassungsgerichtshofs, ca. 1925

Als 1929 Ernennungsrechte vom Parlament hin zur Regierung verschoben und der VfGH so zugunsten der Regierungsparteien „umpolitisiert“ wurde, wollte Kelsen nicht mehr ernannt werden und schied aus dem VfGH aus. Diese Schwächung des VfGH sowie das antisemitische Klima, insbesondere an der Universität, bewogen Kelsen Wien bereits 1930 zu verlassen und an die Universität Köln zu wechseln. Mit dem Weggang aus Wien begann eine fast zehnjährige Periode der ständigen Unsicherheit im Leben Kelsens. Die Zeit in Köln währte nicht lange: Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten nahm er einen Lehrauftrag am Institut universitaire de hautes études internationales in Genf an, wo er auf Französisch unterrichtete. Schließlich folgte Kelsen 1936 einem Ruf an die Deutsche Universität in Prag, wo ihn ein äußerst bedrohliches, antisemitisches Klima erwartete.

Im Mai 1940 flohen Kelsen und seine Frau Grete in die USA. Seine Tochter Maria emigrierte ebenfalls in die USA, während Anna (Hannah) nach Palästina ging. Seine betagte Mutter und seine Schwester konnten im heutigen Slowenien – unter Geheimhaltung ihrer jüdischen Identität – überleben. Andere Verwandte Kelsens konnten nach Großbritannien und Australien flüchten. 

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© Preager Publishers / Bibliothek des Hans Kelsen-Instituts (Bundesstiftung), Foto: Sebastian Gansrigler
Hans Kelsen,The Law of the United Nations, London/New York City 1950

Nach dem Weggang aus Wien und der späteren Flucht in die USA musste Kelsen sich mehrere Male „neu erfinden“: Mit 50 wurde er in Köln Professor für Völkerrecht und sollte später den ersten Kommentar zur UN-Charta verfassen. Mit knapp 60, als Flüchtling in den USA angekommen, musste er nochmals neu anfangen – in einem fremden Land, dessen Sprache er kaum beherrschte. Er machte sich in Peace through Law Gedanken über ein für alle Länder geltendes internationales Gericht. In den USA war er außerdem an der Vorbereitung der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse beteiligt. Zudem macht er sich einen Namen als politischer Philosoph, etwa, indem er zur Frage der Gerechtigkeit publizierte und Vorträge hielt. Diese führten ihn nach Lateinamerika und ab 1953 – und damit seit 1940 erstmals wieder – nach Europa und Österreich.

In Berkeley, Kalifornien, fand Kelsen eine neue (nicht nur akademische) Heimat. Er stirbt 1973, seine sterblichen Überreste werden auf seinen Wunsch hin im Pazifik verstreut. Kelsen schrieb über 300 Werke, seine Schriften wurden und werden in zahlreichen Ländern auf der ganzen Welt rezipiert, seine Bücher wurden in über dreißig Sprachen übersetzt. 

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© Ouriel Morgensztern
Blick in unsere aktuelle Ausstellung im Juridicum

Mit unseren Projekten zu Hans Kelsen und zur österreichischen Bundesverfassung möchten wir Kelsens Wirken einerseits und die Bedeutung unserer Verfassung für Demokratie und Rechtsstaat anderseits einem breiten Publikum näherbringen. Mit der Ausstellung Was hat die Verfassung mit mir zu tun? waren wir kürzlich in der Wiener Seestadt zu Gast. Diese Intervention im öffentlichen Raum, in Kooperation mit Wien 3420 aspern Development AG entwickelt, richtet sich in ihrer Form vor allem an Jugendliche und junge Erwachsene und rückt die Verfassung ins öffentliche Bewusstsein.

Unsere Ausstellung Hans Kelsen und die Eleganz der österreichischen Bundesverfassung ist derzeit am Wiener Juridicum zu sehen. Eine gemeinsame Ausstellung des Österreichischen Verfassungsgerichtshofes und des Jüdischen Museums Wien ist noch bis Ende Juni 2023 am VfGH zu sehen.

In Zusammenarbeit mit dem MANZ-Verlag hat das Jüdische Museum Wien die Graphic Novel Gezeichnet, Hans Kelsen herausgegeben, die von der Künstlerin Pia Plankensteiner gezeichnet und getextet wurde. Erhältlich ist diese in unserem Museumsshop oder online.




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