Wien ist eine Weltstadt – und doch „ein Dorf“. Deshalb lassen sich auch Hedy Lamarrs Wiener Lebensorte mit den Öffis oder dem eigenen Fahrzeug leicht an einem halben Tag abklappern. Man könnte mit dieser „Sentimental Tour“ in der Löblichgasse 14 in Wiens 9. Bezirk starten. An nämlicher Adresse steht seit 1905 das Sanatorium Hera, ein Privatspital, das fast 100 Jahre lang auf Geburtshilfe spezialisiert war. Dort kam am 9. November 1914 die Tochter des Bankiers Emil Kiesler und seiner Ehefrau Gertrud, geb. Lichtwitz, zur Welt. Hedwig sollte das kleine Mädchen heißen. Auf der Website der Hera sind Fotos aus den Anfangsjahren der Institution zu sehen, die dazu verleiten, sich das Ehepaar Kiesler vorzustellen, wie es mit dem neugeborenen Nachwuchs die Klinik verließ und – vermutlich in einer Mietkutsche – nach Hause fuhr.
Sehr weit hatten sie es nicht. Die Kieslers bewohnten seit 7. Jänner 1914 ein Appartement in einem Haus in der Osterleitengasse 2b in dem schon immer noblen 19. Bezirk. Der Meldezettel verrät uns sogar die genaue Türnummer: Es war die 8 im zweiten Stock des Jugendstilhauses, das die über hundert Jahre seit Hedys Einzug gut überstanden hat. Hier wuchs Hedy Kiesler auf. Als Einzelkind wurde sie wohl von ihrer Großmutter und anderen Verwandten verwöhnt und verhätschelt. Im Rückblick auf ihre Kindheit bezeichnete sie sich später als ihres Vaters „kleine Prinzessin“, der er nichts abschlagen konnte. Es fällt nicht schwer, sie sich in dieser gutbürgerlichen Wohnlage vorzustellen. Osterleitengasse 12b, 1190 Wien © Jüdisches Museum Wien_Foto: Sebastian Löblich
Zwischen 1. August und 8. September 1928, Hedy war noch keine 14 Jahre alt war, übersiedelten die Kieslers in eine Wohnung in der Peter-Jordan-Straße 12, die im selben Bezirk wie die Osterleitengasse liegt und von dort aus fußläufig zu erreichen ist. Wieder helfen uns die Meldezettel bei der genauen Lokalisierung: Das neue Domizil lag hinter Tür Nr. 2. Emil Kieslers Karriere hatte sich in den vorangegangenen Jahren gut entwickelt. Im Wiener Bankverein wurde er kurz vor der Übersiedlung zum Bankdirektor-Stellvertreter befördert. Dieser Aufstieg spiegelt sich in der neuen Wohnadresse wider. Das freistehende Mehrparteienhaus liegt in einem Villenviertel und verfügt über einen eigenen Garten. Wurde das Foto, das Emil Kiesler im Oktober 1934 mit den beiden Hunden der Familie zeigt, hier aufgenommen?
Emil Kiesler, Oktober 1934; Leider starb er schon am 21. Februar 1935 an einem Herzinfarkt, nur sechs Tage vor seinem 59. Geburtstag. © Anthony Loder Archive
Hier wurde 1931 auch eine Art „Home Story“ über den aufstrebenden Jungstar zuhause fotografiert.
Warum Hedwig Kiesler am 17. Juni 1933 zur Unterpartei, also zur Untermieterin, in der Wohnung ihrer Eltern umgemeldet wurde, ist unklar. Zufall oder nicht: Am selben Tag trat sie aus der Israelitischen Kultusgemeinde aus. Überhaupt veränderte sich um diese Zeit in ihrem Leben sehr viel. Als Hedy Kiesler blickte sie bereits auf einen vielversprechenden Karrierestart als Schauspielerin zurück. Sie hatte Erfahrungen am Theater gesammelt und in fünf Filmen mitgewirkt, der letzte davon war der Skandalfilm Ekstase, eine tschechoslowakische Produktion mit Kunstanspruch, in der Hedy nackt auftrat und einen Orgasmus mimte. Im Frühjahr 1933 hatte sie den Rüstungstycoon Fritz Mandl kennen gelernt. Er war 13 Jahre älter als sie und einer der reichsten Männer Österreichs. Am 10. August 1933 heiratete das ungleiche Paar in der Wiener Karlskirche. Auf Mandls Verlangen war sie dafür aus der Israelitischen Kultusgemeinde ausgetreten und hatte sich katholisch taufen lassen.
Peter-Jordan-Straße 12, 1190 Wien © Jüdisches Museum Wien_Foto: Andrea Winklbauer
Nach einer längeren Hochzeitsreise verließ sie am 11. September 1933 offiziell ihr Elternhaus und zog am selben Tag gemeinsam mit ihrem Mann ins Wiener Zentrum. Die herrschaftliche Wohnung in einem prominent am Schwarzenbergplatz 15 gelegenen Palais hatte dieser eigens für das neue gemeinsame Leben gemietet. Die Wohnung der Mandls lag hinter Türnummer 10-11 im dritten Stock. Hedy Lamarr berichtete später, Fritz Mandl habe sie dort von den Dienstboten einsperren und bewachen lassen, um jeden ihrer Schritte zu kontrollieren. Wir wissen, wie das endete: Im September 1937 verließ sie ihren Mann und Wien und fing kurz darauf in Hollywood ein neues Leben an. Heute residiert in dem Palais eine bekannte Schweizer Versicherung.
In ihrem Herzen bewahrte sich Hedy Lamarr die schönen Erinnerungen an „ihr Wien“. Im Spätsommer 1955 stattete sie ihrer Geburtsstadt noch einmal einen Kurzbesuch ab, bei dem sie – das belegen Privatfotos aus ihrem Nachlass – Plätze besuchte, die ihr in ihrer Jugend wichtig waren. In ihrer zweiten Lebenshälfte verklärte sie ihre Heimatstadt regelrecht zum Ort einer unstillbaren Sehnsucht und sprach in Interviews immer wieder davon, dauerhaft zurück zu kehren. Doch sie tat es nie.
Hedy Lamarrs einziger Besuch in Österreich, Blick auf den Leopoldsberg, 1955 © Anthony Loder Archive
Erst ihre Asche wurde in Wien teils verstreut, teils beerdigt, Letzteres in einem Ehrengrab auf dem Zentralfriedhof.