Trauer als kulturelle Struktur
Seit fast zwei Jahren sind Palästina und Israel vom Krieg erschüttert. Das volle Ausmaß der Zerstörung und des Verlusts entfaltet sich noch immer, doch die Erfahrung von Trauer ist bereits spürbar und tief präsent. Krieg ist nicht nur ein politischer und gesellschaftlicher Zustand – er ist auch eine persönliche und kollektive Erfahrung von Schmerz und Verlust.
In sowohl jüdischen als auch islamischen Traditionen ist Trauer ein strukturierter Ablauf von Ritualen und verkörperten Gesten, die emotionale Reaktionen auf Tod und Verlust sichtbar machen. Sie ist nicht bloß eine private Reaktion, sondern eine kulturelle Praxis, die den Verstorbenen einen würdevollen Abschied ermöglicht und den Hinterbliebenen einen strukturierten Weg zu Heilung und Kontinuität bietet. Ausdrucksformen der Trauer beinhalten das Aussetzen des Alltags, kollektives Gedenken und bestimmte körperliche Elemente – etwa das Sitzen oder Knien auf dem Boden, das Bedecken des Körpers – sowie stimmliche und sprachliche Formen wie die Klage.
Als rhetorischer und poetischer Akt nutzt die Klage Wiederholung, ruft Verlust hervor und dient der Erinnerung. Sie fungiert als kultureller Mechanismus, der das Private mit dem Öffentlichen verbindet und individuelles Leid mit kollektiver Traumatisierung verknüpft. Durch Körper und Stimme wird Trauer sichtbar, geteilt und anerkannt. So wird Trauer Teil des sozialen Gefüges.

© JMW, Caitlin Gura
Inbal Volpo/Osama Zatar
Lament / קינה / رثاء
2025
Thixotropic epoxy & fabric, 1.6m x 1.6m
Sound installation Arabic, Hebrew, English & German
Die Skulptur
Die Arbeit zeigt eine sitzende Figur, vollständig in Stoff gehüllt – ein visuelles Zeichen für die verkörperte Erfahrung von Trauer und Schmerz. Die Figur trägt die Last des Verlusts und lädt die Betrachtenden dazu ein, das Verhältnis zwischen Körper und Geist sowie die Verflechtung persönlichen Leids mit größeren sozialen und historischen Zusammenhängen in Zeiten der Krise neu zu überdenken.
Das Holocaust-Mahnmal im Londoner Hyde Park besteht aus zwei Elementen: einer visuellen Form und einem textlichen Bestandteil: Versen aus dem Buch der Klagelieder. Diese beiden Ebenen überlagern sich, doch der Akt des Verhüllens des Denkmals stört diese Übereinstimmung. Die Worte der Klagelieder – traditionell eine poetische Klage einer Frau über den Tod ihrer Kinder und die Zerstörung ihrer Stadt – werden symbolisch aus dem öffentlichen Raum gelöscht, als wäre die Trauer selbst aus dem kollektiven Bewusstsein entfernt worden.
Diese Auslöschung lässt sich als Symptom einer Zeit verstehen, in der Trauer politisiert, kategorisiert und sogar unterdrückt wird. Wenn Trauer aus Gewalt, Sektierertum und Vergeltung entsteht, wird ihre Auslöschung zu einem politischen Akt – insbesondere in einem Moment zunehmenden Nationalismus und dem Erstarken faschistischer Tendenzen. Die Arbeit stellt die Frage: Wessen Trauer darf sichtbar sein? Wessen Schmerz wird unsagbar?

© Caitlin Gura, Jüdisches Museum Wien
Vogelperspektive der Intervention Kein Platz für Diskussion? In der oberen linken Ecke befindet sich die Installation Lament
Die Audioinstallation
Die Audioinstallation reagiert auf die Verhüllung des Holocaust-Mahnmals in London während einer pro-palästinensischen Demonstration – angeblich zum Schutz, in der Praxis jedoch, um es dem öffentlichen Blick zu entziehen. Diese Verhüllung wurde zu einem Akt symbolischer Auslöschung und wirft dringende Fragen nach Sichtbarkeit, Erinnerung und den Grenzen kollektiver Trauer auf.
Wie beim verhüllten Denkmal durchläuft auch hier das Buch der Klagelieder – ein poetischer Ausdruck von Zerstörung und Verlust – einen doppelten Prozess von Präsenz und Verschwinden. Die mehrsprachige Lesung auf Hebräisch, Arabisch, Englisch und Deutsch verleiht dem Text Resonanz über Sprach- und Kulturgrenzen hinweg. Doch gerade die Vielstimmigkeit offenbart auch die Grenzen des Zuhörens: Können wir wirklich Raum für die Trauer anderer halten? Geht die Anerkennung eines Verlusts zwangsläufig auf Kosten eines anderen?
Im Gegensatz zum biblischen Originaltext, der Leid als göttlichen Willen deutet, nimmt diese Arbeit eine menschenzentrierte Perspektive ein. Sie weist die Vorstellung einer fernen oder göttlichen Ursache zurück und verweist stattdessen direkt auf menschliches Handeln als Ursprung von Gewalt, Zerstörung und Trauer. Sie sucht keinen Trost im Mythischen oder Unergründlichen – sie fordert Verantwortung ein.
Diese Perspektive ist besonders dringlich angesichts der anhaltenden Kriegs- und Völkerrechtsverbrechen im Gazastreifen. Die Arbeit besteht darauf, dass Trauer nicht von politischer Verantwortung getrennt werden kann. Durch Stimme, Abwesenheit und das Spannungsverhältnis zwischen Sichtbarkeit und Stille hinterfragt sie die Hierarchien des Gedenkens und die Politisierung von Trauer.
Zwischen dem gesprochenen Wort und dem zum Schweigen gebrachten Raum stellt die Arbeit die Frage: Was bleibt, wenn Erinnerung ausgelöscht wird – und wie kann die menschliche Stimme dieser Auslöschung widerstehen?
Audioinstallation Vorleserinnen
Esther Wratschko (Deutsch, Englisch)
Inbal Volpo (Hebräisch)
Oula Al Khatib (Arabisch)

© JMW, Violeta Villacorta
Von links nach rechts: Osama Zatar (OneState Embassy Künstler), Caitlin Gura (JMW-Kuratorin) und Inbal Volpo (OneState Embassy Künstlerin) während des Aufbaus der Intervention. Im Vordergrund ist die Skulptur Lament.
Über die Autor:innen
Inbal Volpo ist Künstlerin in Wien. In einer israelischen Siedlung entlang der Grünen Linie Grenzen aufgewachsen, prägt diese Erfahrung ihre Arbeit.
Osama Zatar ist Bildhauer und politischer Künstler in Wien und Gründungsmitglied des Künstlerkollektivs OneState Embassy. In Ramallah geboren, thematisiert seine Arbeit seine persönlichen Erfahrungen aus den laufenden politischen Konflikten in Israel/Palästina.
OneState Embassy Art Collective ist ein Verein von in Wien lebenden palästinensischen und israelischen Künstler:innen. Die 2009 gegründete Künstlergruppe widmet sich der Überwindung von Trennungen und Konflikten und begibt sich auf die Suche nach Wegen zur Einheit und Koexistenz.
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